Unruhig ist unser Herz, bis es ruht in dir!
– Von der Unerfüllbarkeit menschlicher Sehnsucht –
Die Geschichte ist uralt, sie war vor einigen Monaten wieder einmal in einem kleinen Fernseh-Film zu sehen: Ein Kind steht am Anfang einer langen geraden Straße. Die Straße scheint erst dort zu Ende zu gehen, wo sie den Himmel berührt, am Horizont. Aber was weiß das Kind schon vom Horizont? Es sieht nur das vermeintliche Zusammentreffen von Straße und Himmel. Und läuft los, bis es müde wird. Die Straße hat sich zwar in der ganzen Zeit nicht verändert, nur der Horizont ist weiter als je zuvor.
Soll es weiterlaufen, das Kind? Die Kräfte lassen nach, obwohl die Sehnsucht nach jenem Punkt der Vereinigung von Himmel und Erde ungebrochen ist. Das Kind läuft noch einige Schritte, dann wird die wunderbare Sehnsucht von der grausamen Wirklichkeit besiegt.
Auch unsere drei jungen buddhistischen Mönche blicken sehnsuchtsvoll in die Ferne. Sie laufen zwar nicht, aber jedenfalls ihr Blick scheint ins Unendliche zu gehen. Denn der Punkt, an dem sich Himmel und Erde – oder ist es das Meer? – treffen, ist unendlich weit. Ein paar Wolken täuschen die Erreichbarkeit des Unendlichen vor. Aber die Mönche laufen nicht; sie scheinen stattdessen das Unendliche zu meditieren, sich innerlich ins Unendliche hinein zu vertiefen. Ihre Sehnsucht lebt; sie hat einen Grund. Dieser Grund scheint erreichbar zu sein.
Was wären wir Menschen ohne die Sehnsucht? Sie ist den Träumen verwandt, aber sie hat einen Bezug zum Gegenwärtigen, zum Erlebbaren, zum Erfahrbaren. Wenn schon Traum, dann Tagtraum. Die Sehnsucht ist der Wirklichkeit nicht völlig fremd.
Aber sie steht in ständigem Konflikt mit der Wirklichkeit. Wer gefangen ist, hat Sehnsucht nach der Freiheit, aber diese Sehnsucht kann nicht gestillt werden, solange Unfreiheit ist. Aber im Prinzip kann das Ziel der Sehnsucht Realität werden.
Sehnsucht nach der großen Liebe! Wer möchte nicht geliebt werden, Zuwendung erfahren, liebevoll berührt werden. Liebe ist möglich, auch die ganz große, aber viele Menschen, vor allem die mit den enttäuschten und verwundeten Herzen, müssen sich mit der Sehnsucht begnügen, weil die Wirklichkeit sich nicht einstellen will. Sehnsucht nach einem gelungenen Leben! Aber wieviele scheitern. Sehnsucht nach wenigstens einem bisschen Glück, aber wieviele leben unglücklich dahin. Die Hoffnung aber lässt die Sehnsucht nicht ganz und endgültig sterben, weil ohne Sehnsucht kein Mensch ganz leben kann.
Die Werbung, mit der wir täglich konfrontiert werden, hat die Sehnsucht verraten, hat sie klein gemacht. Aus der großen Sehnsucht sind die vielen kleinen Bedürfnisse geworden, und die Bedürfnisse, so gaukelt man uns vor, sind alle erfüllbar. Und wenn wirklich niemand mehr Bedürfnisse hätte, weil der Konsum sie gestillt hat? Dann bleibt die Sehnsucht.
Vor einiger Zeit habe ich gelesen, dass die Sehnsucht mit wachsendem Alter zunimmt. Eigentlich hatte ich gedacht, dass die Sehnsucht ein Privileg vor allem der Jugend sei, wie bei den drei jungen Mönchen; ob denn ein alter Mensch so sehnsüchtig in die Endlosigkeit des Tatsächlichen blicken kann; sind es nicht eher die Jungen, die sehnsüchtig in die Zukunft blicken? Oder sind die Jungen die knallharten Realisten, die Alten aber die Träumenden – und Hoffenden?
Sehnsucht geht immer über das Erreichbare hinaus. Auch wo Ziele tatsächlich erreicht werden, bleibt die Sehnsucht. Da träumt einer sehnsüchtig, einmal in die Ferne reisen zu dürfen, und bereitet die Reise intensiv vor. Die Sehnsucht nach der Ferne wächst mit jedem Tag. Die Reise gelingt, die Heimkehr ist glücklich. Aber ist denn die Sehnsucht nach dem Fernen damit wirklich an ein Ende gekommen? Die Sehnsucht bleibt, vielleicht ist sie sogar gewachsen und sucht nach neuen Zielen und weiß, dass jedes erreichte Ziel neue Sehnsucht weckt.
Der Kirchenvater Augustinus hat um das Jahr 400 nach Christus die Sehnsucht nach dem ganz Großen und Unendlichen wunderbar definiert: „Unruhig ist unser Herz, bis es ruht in dir, mein Gott!“ Augustinus zeigt damit, wo die Sehnsucht endgültig an ihr Ziel kommt. Oder, wie Kardinal Lehmann es einmal formuliert hat: „Sehnsucht geht nicht ins Endlose, sondern bekommt eine Antwort aus dem Unendlichen.“
Es ist wohl kein Zufall, dass es gerade die jungen buddhistischen Mönche sind, die ihre Sehnsucht im Unendlichen festmachen, eben da, wo Himmel und Erde sich berühren. Da wird der Sinn aller Sehnsucht erschlossen: Sehnsucht kann nicht durch Fremd-Therapie oder Selbstheilungskräfte gestillt werden, sondern nur durch das große Ziel eines – gelungenen oder gescheiterten – Lebens.