Ein Fremder? Oder einer unserer Vorfahren?
Bitte, fühlen Sie sich nicht in die Irre geführt. Deshalb gleich zu Anfang dieser Hinweis: Unser Bild zeigt einen jungen Gorilla aus Afrika, aus der Familie der „Baby-Gorillas“. Aber man macht sich so seine Gedanken: Könnte es sein, dass unsere Vorfahren vor uralten Zeiten nicht völlig anders ausgesehen haben? Denn so unverständig sieht er gar nicht aus, unser junger Gorilla, und manch einer mag sich da in seiner Meinung bestärkt fühlen, dass die heutigen Menschenaffen dem Menschen nicht so völlig fremd seien, sondern dass sie in der langen Reihe unserer Vorfahren irgendwo anzutreffen sind.
Aber ganz so ist das nicht. Denn der Affe war nie Urahn des Menschen. Sondern vor fünf bis sechs Millionen Jahren haben sich die Vorfahren der heutigen Schimpansen von den Vorfahren des heutigen Menschen abgesetzt, bzw. umgekehrt. Die einen haben sich in diesen Jahrmillionen zu Affen, die anderen zu Menschen entwickelt.
Das zu sagen, ist heute dem Theologen nicht mehr verboten. Denn auch die Bibelwissenschaft weiß heute, dass die Erzählung von der Schöpfung in sieben Tagen nicht eine Reportage, sondern ein Hymnus, ein Lobpreis des Schöpfer ist, nicht mehr und nicht weniger.
Dass aber der Mensch aus etwas anderem hervorgegangen ist, wird ja schon sinnbildlich erzählt, wo Gott den Menschen aus dem Stoff der Erde nahm; vielleicht war dieser Erdenstoff ein Teil der damals lebenden Tierwelt.
Die selbstverständlichen Erkenntnisse der Bibelwissenschaft haben übrigens amerikanische Fundamentalisten nicht daran gehindert, in Florence im Bundesstaat Kentucky ein Museum zu errichten, das die Entwicklung des Menschen nach dem Forschungsstand des späten Mittelalters zeigt, der als heutiger Forschungsstand ausgegeben wird; das überrascht allerdings nicht, wenn man weiß, dass 45 {0f38065183cb40ac31b18e7eb06d8f44721306cfb9fa896965a116e3f20acc1c} aller Amerikaner meinen, dass Gott in den letzten 10 000 Jahren die Erde geschaffen habe.
Etwa 3, 6 Millionen Jahre ist „Lucy“ alt, jenes menschenähnliche Wesen, das in Äthiopien gelebt hat und dessen Gebeine auf der Expo 2000 in Hannover zu sehen waren. War Lucy der erste Mensch? Wir wissen seit etwa einem Jahr, dass in Mittelafrika bereits vor sechs bis sieben Millionen Jahren Wesen auf der Grenze zwischen Menschwerdung und Affenwerdung gelebt haben. Das überrascht; denn für so alt hatte man das menschliche Geschlecht bisher nicht gehalten. Auch dass solche alten Menschentypen in Mittelafrika gelebt haben, wirft viele Theorien um, glaubte man doch bisher, die ersten Menschen hätten in Ostafrika, eben in Äthiopien, gelebt.
Vielleicht war „Toumai“, so haben die Forscher das jüngste Ergebnis ihrer Forschungen genannt, dem gemeinsamen Vorfahren von Schimpanse und Mensch sehr nahe. Vielleicht ist er nicht der direkte Urahn heutiger Menschen, die man selbstherrlich als „Homo sapiens“, also als den Typ des „weisen Menschen“ bezeichnet. Lief „Toumai“ noch auf allen Vieren, oder hatte er bereits einen aufrechten gang? Müssen die Forscher nun endgültig mit der These aufräumen, Ostafrika sei der Ursprungsraum der heutigen Menschheit? Kann es sein, dass der Übergang vom „Stoff der Erde“ zum Menschen an verschiedenen Orten Afrikas etwa zur gleichen Zeit stattgefunden hat? Wir hoffen, Antworten auf die vielen neuen Fragen nach der Herkunft des Menschen zu bekommen; aber der Fund des „Toumai“ ist nur bruchstückhaft; bisher hat man gerade mal einen Schädelteil, aber dieser Schädel kann die bisherigen Forschungsergebnisse stark verändern. Die Forscher werden allerdings die wichtigste Frage nicht beantworten, ob nämlich dieser große Unbekannte bereits vom Ruf des Schöpfergottes getroffen war oder ob er noch in der Ungewissheit einer nur möglichen menschlichen Zukunft schlummerte. Hatte „Toumai“ schon eine menschliche Seele? Jedenfalls führt uns jedes neue Forschungsergebnis tiefer in die Wunderwelt einer vielgestaltigen Schöpfung eines ungemein phantasievollen Schöpfers hinein.
Weder Rom noch die Menschheit insgesamt sind an einem einzigen Tag entstanden. Aber immer deutlicher sind die Spuren der Menschheit nachzuzeichnen, die Gott dem Menschen als Vorgeschichte mitgegeben hat.
Die Geschichte der „Menschwerdung des Menschen“ ist eine überaus spannende Geschichte. Wir können vor dem Wunder einer jahrmillionenlangen Schöpfung nur staunend verstummen, vor allem vor einem großartigen Schöpfer, der solche ungeahnte Entwicklungskräfte in seine ganze Schöpfung gelegt hat, bis endlich wir Menschen werden konnten.
Ulrich Zurkuhlen (November 2002)