Der 150. Psalm
Wir waren in England; genauer gessat: in Südengland, wo wir eine herrliche Natur und ebenso schöne Kathedralen und Abteien besuchten. Wir, das waren 70 Pilgerinnen und Pilger aus Münster, Bocholt und anderswo. Wir hatten als Ziel unserer Reise die alte Pilgerstadt Canterbury, die im Mittelalter ebenso bedeutsam war wie Santiago de Compostela; man pilgerte zum Grab des hl. Thomas Becket, der an den Stufen des Altares ermordet war und dessen Grab Millionen von Menschen besuchten. Zwar ist das Grab im 16. Jahrhundert von König Heinrich VIII. verwüstet worden; die Gebeine wurden verbrannt, und damit ließ die Wallfahrt auch merklich nach. Aber jetzt sind es in jeden Jahr immerhin mehr als eine Million Menschen, die die herrliche Kathedrale besuchen.
Vorher auf unserem Weg besuchten wir die Kathedralen von Chichester, Christchurch, Winchester, Salisbury, Sherborne Abbey,Well, Glochester und Oxford und natürlich in London die Westminster Abbey, die Westminster Cathedral und die St. Pauls Cathedral. Und in der kleinen Dorfkirche von Tudely sahen wir die zwölf wunderbaren Fenster von Marc Chagall.
Das andere Chagall-Fenster sahen wir in Chichester; sie finden es als Bild in der Anlage dieses Textes. Es geht in Chichester fast in der Fülle der alten und modernen Kirchenkunst unter, aber man ist fasziniert, wenn man vor dem Fenster in der Nordostecke der Kathedrale steht, und vergisst fast die anderen schönen Dinge der Kathedrale. Anders als bei den meisten Chagall-Fenstern ist dieses leuchtend rot in der Grundfarbe. Andere Farben sind leicht angetupft, aber sie lassen den verschiedenen Rottönen ihre Leuchtkraft.
Das Fenster ist eine Illustration des letzten der 150 Psalmen im alttestamentlichen Psalter. In der Übersetzung von Martin Buber heißt der kurze Psalm:
Preiset oh Ihn!
Preiset ihn in seinem Heiligtum,
preiset ihn am Gewölb seiner Macht!
Preiset ihn in seinen Gewalten,
preiset ihn nach der Fülle seiner Größe!
Preiset ihn mit Posaunenstoß,
preiset ihn mit Laute und Leier,
preiset ihn mit Pauke und Reigen,
preiset ihn mit Saitenklang und Schalmei,
preiset ihn mit Zimbelnschall,
preiset ihn mit Zimbelngeschmetter!
Aller Atem preise oh ihn!
Preiset oh Ihn!
So ist das Fenster des Lobes Gottes zugleich ein Fenster der Musik; denn die Musikinstrumente werden ja zum Lobpreis aufgerufen. Ganz unten ist z.B. ein Flötenspieler zu sehen. Und einer, der das Horn bläst. Und einer, der seine Geige in der Hand hält. Einer trägt Rhythmus-Instrumente, ein anderer zupft die Saiten. Oben ist auch noch mal ein Mann, der ein Horn bläst. Und in der Mitte oben sieht man auf einem Pferd König David, der nach der jüdisch-christlichen Tradition der Sänger des Psalms ist; er spielt die Harfe.
Und Gott? Natürlich hat Chagall als Jude das Bilderverbot des Alten Testaments beachtet, nach dem man Gott nicht bildlich dargestellt. Aber angedeutet im Symbol ist Gott: Ganz oben sieht man die beiden Bundestafeln, auf denen Gott nach biblischer Überlieferung die zehn Gebote an sein Volk gegeben hat, der Kern des göttlichen Gesetzes. Dorthin, zum Geber der Tora, geht das Lob der Menschen: Preiset oh Ihn! Die Musik ist also auf unserem Bild kein Selbstzweck, so wie ein Orchester Musik macht, sondern die Musik steht im Dienst des Lobpreisens Gottes, der sich am Sinai den Menschen offenbart hat.
Chagalls Bild – Bubers Übersetzung: Wie dankbar dürfen wir sein, dass zwei so große jüdische Künstler uns in die Tiefe des Gotteslobes hineinbringen.
Ulrich Zurkuhlen (November 2003)