In der Kirche von Assy.
Wir haben im vorigen Herbst auf unserer Wallfahrt die Kirche „Notre-Dame de toute Grace“ auf dem Plateau von Assy besucht; das ist bereits auf französischem Gebiet, aber ziemlich nahe an der Grenze zur Schweiz. Wir waren vorher in Martigny (West-Schweiz) gewesen und hatten dort die überragende Chagall-Ausstellung besucht; auch in Assy trifft man auf Chagall, der dort die Taufkapelle gestaltet hat: Eine Wand aus Kacheln zeigt den Durchzug durch das Rote Meer, eine Geschichte, die oft als Vorbild der christlichen Taufe gedeutet wird. Das Plateau liegt hoch über dem Tal, in Sichtweite sieht man den Mont Blanc, und da wir ein wunderbares Wetter hatten, wurde der Aufenthalt auf dem Plateau zu einem unvergesslichen Fest. Dort haben wir die Eucharistie gefeiert.
Die Kirche von Assy wurde nach dem Krieg gebaut, 1950 wurde sie eingeweiht; Novarina war der Architekt. Es ist nach meinem Geschmack eine der schönsten und kostbarsten Kirchen, die ich kenne. Fernand Leger hat hier gearbeitet, auch Germaine Richier, Marguerite Hure, auch Braque, Matisse, Bazaine, … und Georges Rouault; die Initiative ging von Pater Couturier aus, ohne den die Kirche wohl nicht geworden wäre; er ist der Initiator der modernen französischen Kirchenkunst.
Von Georges Rouault (1871-1958) sind mehrer Fenster in Assy geschaffen. Rouault ist kein Unbekannter. Es ist schon Jahrzehnte her, irgendwann in den Siebziger Jahren, da habe ich in München eine Ausstellung von Werken Rouaults gesehen; seitdem sind mir seine Werke sehr vertraut. Hier in Assy ist eines seiner schönsten, der „gegeißelte Christus“, ein farbiges Fenster. Dieses und die anderen Rouault-Fenster haben einen auffallend dunklen Hintergrund und im Vordergrund sehr intensive Farben. Neben dem Christus von Rouault gibt es von ihm in Assy zwei Fenster mit Blumensträußen, ein Bild der Veronika und ein weiteres Christusbild.
Was mir besonders gefällt, ist das „schöne“ Gesicht des Leidenden; wenn man den Titel des Bildes nicht kennen würde, käme man bestimmt nicht drauf. Aber dann sieht man, dass die Hände gefesselt sind. Aber von Geißelung keine sichtbare Spur, ganz anders als auf zahlreichen mittelalterlichen Bildern. Da bei unserem Besuch die Sonne durch die Fenster schien, erstrahlte das Christus-Fenster in wunderbarem Glanz. Das ist vielleicht der Schlüssel zum Verständnis: Das Licht, das letztlich das Licht von Ostern ist, „durchleuchtet“ den Körper des Christus, so als ob er hinter einem Röntgenschirm stände; da sieht man nicht die Spuren des Leidens, sondern die Transparenz des Christus. Oder man denke an Ostern: Der Leib des Auferstandenen ist durchsichtig, nicht mehr der Materie verhaftet; Paulus nennt das im ersten Korintherbrief einen „Geistleib“, auf den ersten Blick ein Widerspruch, auf den zweiten Blick eine schlüssiger Deutung: Der Leib ist nicht mehr handgreiflich und materiell, sondern vom Licht durchflutet.
Dass Rouault den leidenden Christus schon so sehr von Ostern her deutet und bereits den gegeißelten Leib in die österliche Dimension versetzt, ist sehr bemerkenswert. Das entspricht dann eigentlich unserem Umgang mit Karfreitag und Ostern: Wir können nicht mehr die Trauernden spielen, auch nicht am Karfreitag, weil Leiden und Tod von Ostern überstrahlt sind. Die paar Menschen unter dem Kreuz wussten das damals noch nicht, aber wir wissen es: Ostern ist immer auch schon am Karfreitag.
Das Christus-Fenster zeigt überraschend viel die Farbe Grün, die Farbe der Erde, aber auch der Hoffnung. Und das bisschen Blau, die Farbe des Himmels, will andeuten, dass sich Himmel und Erde irgendwie miteinander verbunden haben, freilich noch auf Hoffnung hin.
Unsere Pilgergruppe hat also in Assy das Gedächtnis des Todes und der Auferstehung Christi gefeiert; das Christus-Fenster von Georges Rouault hat uns dabei manche Anregung gegeben.