Brudermord.
Vor einiger Zeit war ich für ein paar tage in Zürich, einer faszinierenden, vitalen Stadt. Natürlich ist der See ein besonderer Anziehungspunkt, aber auch die beiden wunderschönen alten Kirchen Großmünster und Fraumünster. Das Fraumünster, eine hochgotische Kirche, wird besonders besucht wegen der Fenster von Marc Chagall. Soweit ich weiß, sind es die einzigen Chagall-Fenster in der Schweiz, und wunderschön sind sie allemal.
Die andere Kirche ist das Großmünster mit den beiden Türmen; das Großmünster wurde kürzlich in der Tageszeitung „Westfälische Nachrichten“ als „Dom von Innsbruck“ bezeichnet!!! Auch das Großmünster hat interessante moderne Fenster von Sigmar Polke; sie passen gut in die romanisch-frühgotische Kirche. Besonders beeindruckt aber hat mich das bronzene Kirchenportal, die so genannte Bibeltür, die Mitte des 20. Jahrhundert von Otto Münch geschaffen wurde. Es sind einzelne Szenen von der Schöpfung bis zur allgemeinen Auferstehung. Es sind eindrucksvolle Bilder, z.B. der „Brudermord“ des Kain an seinem Bruder Abel. Die Bibel erzählt die Geschichte, und man wundert sich, dass es offenbar seit Beginn der Menschheitsgeschichte Mord und Todschlag gab; schließlich sind Kain und Abel Söhne von Adam und Eva.
In dem Bild und der Geschichte steckt eine kulturgeschichtliche Deutung. Kain ist Ackerbauer, Abel Schafhirt. Die Geschichte ist in der Zeit der beginnenden Sesshaftigkeit geschrieben, und der Schreiber ist wohl selbst ein Hirte. Denn Hirte zu sein, ist etwas Edles und Gutes; sein Umherziehen und die Sorge für die Tiere. Ackerbauer zu sein, also sesshaft, wird dagegen verurteilt. Der Bauer eignet sich ja Land, das eigentlich der ganzen Gemeinschaft zusteht, an und macht es zu seinem ganz privaten Eigentum. Er bebaut den Boden und verkauft die Ernten und zieht damit seinen Mitmenschen das Geld aus der Tasche. Beide Berufe und ihre Lebensformen werden also moralisch beurteilt bzw. verurteilt. Dann ist es für den Hörer der Geschichte auch nicht verwunderlich, dass der böse Ackerbauer ein Mörder ist, der gute Hirte aber ein Verfolger und Gemordeter.
Das fällt einem ein, wenn man im Neuen Testament von Jesus hört, er sei „der gute Hirt“; auch Jesus wird von seinen Landsleuten, seinen Brüdern getötet, und es verwundert nicht, dass Abel ein Vorbild Jesu ist. Und in der tat: Jesus bezeichnet sich nicht als guten Ackerbauern, sondern als guten Hirten. Offenbar gab es bis in die Zeit Jesu hinein solche gesellschaftlichen Bewertungen.
Insofern ist klar, dass Kain und Abel nicht historische Personen sein wollen, sondern Prototypen. Auch bei dem Sieg des David über Goliat finden wir eine ähnliche Aussage in Form einer Geschichte. Der kleine, unbewaffnete, aber gottesfürchtige David steht für das Volk Israel, dessen König David später wird. Goliat steht für das eingedrungene, aggressive Volk der Philister: schwer bewaffnet, mächtig und brutal. Die Geschichte erzählt nicht vom Kampf zweier Personen, sondern vom Krieg zweier Völker, und der Sieg des kleinen Israel ist für das Volk ein Zeichen seiner Gottesnähe. Die Personen des Alten Testaments sind Typen eines Charakters, einer Partei, eines Volkes; ob sie historisch sind, ist da zweitrangig. David ist wahrscheinlich eine historische Gestalt, Kain und Abel sind es sicher nicht.
Wie in vielen Märchen stehen die auftretenden Personen „für“ etwas. Und die Hörer werden sich, wenn sie die Geschichten am Lagerfeuer der Nomaden hörten, gemerkt haben, was die Geschichte ihnen sagen will. Die Geschichten der Bibel sind ja „Heilsgeschichten“.