Lamm ohne Makel.
Eine befreundete Familie hat mir kürzlich einen Gruß aus der wunderbaren Basilika von Torcello geschickt; Torcello liegt auf einer Insel vor Venedig; die Basilika wurde 1008 von Orseole gebaut und ist überaus reich an Mosaiken aus unterschiedlichen Zeitepochen. Da ich selbst vor kurzer Zeit in Torcello war, habe ich mich über diesen Bildergruß besonders gefreut.
Das Bildmotiv ist das Lamm; in der Sakramentskapelle von Torcello ist es eines von vielen Motiven; das Lamm wird, genau in der Mitte des Apsis-Gewölbes, von vier Engeln getragen. Zwei Engel blicken sehr heiter, während zwei andere Engel ein bisschen brummig und missmutig gucken; ist ihnen das Lamm zu schwer? Was der unbekannte Mosaik-Künstler damit zeigen und sagen wollte, ist unklar und mehrfach deutbar.
Aber das Lamm! Es ist zunächst überhaupt erstaunlich, dass die Tier-Symbole in Bibel und Kunst eine so große Rolle spielen, und das Lamm ganz besonders. Das Lamm erinnert zunächst an das Opferlamm der Israeliten, die im Opfern des Lammes einen festen Bund mit Gott zu bekräftigen suchten. Sogar in außerbiblischen Bezügen gibt es das Symbol des Lammes, z.B. in der Bilderschrift Chinas als „die große Gerechtigkeit“. Besonders bekannt ist unter den Opferlämmern Israels das Pessach-Lamm, das im Vorhof des Tempels geschlachtet wurde; von seinem Blut wurde Schutz erwartet, so erzählt es ja die Geschichte vom Auszug aus Ägypten, wo das Blut an die Türpfosten gestrichen wurde, damit Gott die so Bezeichneten verschont in seinem Zorn. Das ist nicht ganz unser Gottesbild, aber es hat in der Theologie und eben auch in der Kunstgeschichte eine lange Tradition.
Auch der „leidende Gottesknecht“ bei Jesaja wird mit einem Lamm verglichen, das zur Schlachtbank geführt wird; auch das ist später von den Christen als ein Vorzeichen auf Jesu Opfertod gedeutet worden. Das wird dann bei dem Täufer Johannes aufgegriffen, der den kommenden Messias als „Lamm Gottes“ bezeichnet; auf vielen Bildern, z.B. auf dem Isenheimer Altar in Colmar, trägt Johannnesein Lamm. Wir sollten nicht vergessen, dass das Wort „Lamm Gottes, das hinweg nimmt die Sünden der Welt“ in die Liturgie der Kirche übernommen ist. Kein Symbol der Frömmigkeit wird so oft zitiert wie das Lamm Gottes, das „Agnus Dei“.
Das siegreiche Lamm wird sehr ausführlich in der Offenbarung des Johannes beschrieben, das Lamm, das die Siegel des versiegelten Gotteswortes öffnet und eine neue Heilszeit her ausführt.
Vielleicht ist das auch der Grund dafür, dass man auf antiken Christengräbern das Lamm so oft abgebildet hat. Meistens steht es in Anlehnung an die Offenbarungs-Vision auf einem Hügel, von dem die Paradieses-Ströme herab fließen. Und oft trägt das Lamm die Siegesfahne des Auferstandenen. Das ist auch wohl die Lamm-Symbolik unseres Mosaik-Bildes aus Torcello, wo offensichtlich auch die vier Flüsse fließen. Das Lamm ist die Verheißung des neuen, endzeitlichen Paradieses.
Schön, dass das Lamm so freundlich guckt; das ist sicher die Absicht des Künstlers gewesen. Oder ist es nicht eigentlich ein Menschengesicht?