Der strenge Blick des Kindes und seiner Mutter.
Im Süden der Schweiz, in Graubünden, unweit der berühmten „Via mala“, liegt das kleine Dorf Zillis; man übersieht es leicht, wenn man vom sonnigen Italien angezogen wird; die Grenze mit dem San-Bernardino-Pass ist nicht weit.
Zillis ist weltbekannt, weil sich hier eine der schönsten und künstlerisch reichsten Kirchendecken befindet. Die Kirche selbst ist ziemlich schlicht. Aber die gemalte Holzdecke, die sich über den gesamten Kirchenraum erstreckt, ist sensationell. Die Kirche ist dem hl. Martin geweiht; sie stammt wohl aus dem frühen 12. Jahrhundert, und die Bemalung ist figürlich, also nicht nur farbig, sondern die 153 Felder der Decke, die übrigens vollkommen erhalten ist, stellen, neben einigen Symbolgestalten, Szenen aus dem Leben Jesu und des Kirchenpatrons St. Martin dar; auch Szenen aus dem Alten Testament sind zu sehen. Die ungewöhnlich braun getönten Farben hinterlassen einen Eindruck davon, wie damals dargestellt wurde. Es erinnert an die voraus gehende Buchmalerei; die barocke Schwülstigkeit ist noch weit entfernt.
Ich habe jetzt zum Weihnachtsfest eine Farbtafel ausgewählt, die dem Betrachter bekannt vorkommt: Maria mit dem Kind. Aber zwei Dinge sind überraschend: Das Kind ist kein Baby mehr, sondern ein junger Mensch, dessen Blick schon ein Stück in die Zukunft weist, und die Zukunft scheint nicht nur rosig zu sein, sondern vielleicht dunkel und schwer. Auch das Gesicht der Maria ist ähnlich ernst. Die Geste der Maria ist eindrucksvoll: Mit dem nahezu gleichen Gesichtsausdruck blicken sich die beiden an; oder geht der Blick Marias über das Kind hinweg in eine ferne Zukunft, die sich abzuzeichnen scheint. Die Zukunft scheint mit dem Kind zu tun zu haben; deshalb hält Maria das Kind mit beiden Händen fest, und die linke Hand des Kindes und die linke Hand der Maria berühren sich.
Und es überrascht, dass beide Personen keinen Heiligenschein tragen, während die Personen auf vielen der Bilder vor allem Jesus, aber auch Maria mit einem Nimbus zeigen. Vielleicht sind hier gar nicht Maria und Jesus abgebildet; das kann so sein. Dann geht es hier einfach um ein Bild von Mutter und Kind, die „nichts zu lachen haben“, und das geht vielen Müttern und Kindern so. Dann wäre das Bild allgemeiner zu verstehen: Maria und Jesus stehen zusammen mit vielen anderen in der dunklen Leidensgeschichte vieler Familien. Und dann passt das doch sehr genau: Die Zahl der Bedrängten und vor der Zukunft sich Ängstigenden ist riesig groß, und die Familie von Maria und Jesus gehört dazu.
Ist das nicht etwas zu dunkel für Weihnachten? Ich glaube nicht, auch wenn wir die „Vorweihnachtszeit“ und manche Elemente von Weihnachten eher ver- kitscht und verniedlicht haben. Umso aufregend ist es ja, dass Gott nicht nur einfach ein Mensch, sondern ein Knd wird. Deswegen werden wir Weihnachten das berühmte Lied mit einer kleinen, aber wichtigen Änderung singen: „Kleiner
Gott, wir loben dich!“
Ein großes Poster, auf der die ganze Decke von Zillis abgebildet ist, hängt in meinem Schlafzimmer: Mein erster Blick morgens geht auf die Decke von Zillis!