Beten

Vor einiger Zeit – ich weiß nicht mehr genau, wann das war – brachte das Fernsehen einen Bericht über eine holländische Familie, die beim Einsturz eines Hotels schwer verletzt worden war, zwar nicht lebensgefährlich, aber doch so, dass sie sich um ihr künftiges Leben Sorge machten. Der junge Familienvater rief seinen Vater in Holland an, schilderte den Unfall, beschrieb den gesundheitlichen und auch den psychischen Zustand der Familie und bat den Vater, für die Familie zu beten. Diese Bitte, so berechtigt sie ist, taucht in Fernsehen nicht sehr oft auf. Der Vater in Holland zeigte völliges Unverständnis und sagte: „Sind wir denn hier in Birma?“ Ich war völlig überrascht und auch etwas erschrocken: Meinte der Mann wirklich, dass man nur in Gebieten Ostasiens das Gebet, auch das fürbittende Gebet für andere Menschen, pflegt, aber doch nicht hier im aufgeklärten, liberalen West-Europa.

Seitdem denke ich oft darüber nach: Wann betet eigentlich der Mensch hier in unserer Kultur noch? Ich will es mal so sagen: Für sehr viele Menschen ist das Gebet, besonders das fürbittende Gebet an einen guten Gott, durchaus eine Selbstverständlichkeit. Das mögen spontane Hilferufe an Gott in einer schwierigen Lage sein, auch Vertrauen an das Wirken dieses großen Gottes, oder auch Dankbarkeit für die erfahrene Hilfe Gottes. Wenn ich in eine Kirche komme, so blicke ich oft auch in die „Fürbitt-Bücher“, und dann bin ich sehr erstaunt, dass viele der handschriftlich niedergeschriebenen keine „Bitten“, sondern vielmehr Ausdruck von Dank und Freude mit diesem übermächtigen Partner sind.

Viele Menschen gehen im Lauf des Tages in eine Kirche zum stillen Gebet, und es ist ein Zeichen dafür, dass sie hier in der Kirche eine gute Erfahrung machen. Sind es viele? Der Küster einer Kirche, in der ich lange tätig war, hat mir vor einiger Zeit gesagt, in der Kirche seien in einem einzigen Jahr im Laufe des Tages 23 000 Kerzen entzündet worden.

Ob das Gebet eines Menschen spontan ist; ob es ein bekanntes Gebet, z. B. das Vaterunser, ist; ob ich Gebete in einem guten Gebetbuch auswähle und bete – das ist ganz verschieden, und wenn ich ein sprachlich und inhaltlich gutes Gebet suche, dann greife ich gern zu den Gebeten des holländischen (!) Theologen Huub Oosterhuis, der kürzlich verstoben ist; auch seine Übersetzungen der 150 Psalmen sind sehr tiefgehend; sehr nachdenklich machend, sehr meditativ.

Nein, der Holländer, der Beten nur in Ostasien vermutet, ist im Unrecht. Er kennt sich in der Mentalität von Christen nicht aus. Er sollte für Menschen beten, die um sein Gebet bitten.