Maria und der Monat Mai
Unzählige Male haben Künstler dargestellt, gemalt, aus Stein gehauen, in Holz geschnitzt, wie Maria das Kind Jesus auf ihrem Arm trägt und das Tiefe Glück der Mütterlichkeit widerspiegelt. Alle Epochen der Kunstgeschichte kennen solche innigen Marienbilder. Meistens ist Jesus noch ein ganz kleines Kind, das von den Armen der besorgten Mutter gehalten wird. „Maria mit dem Kinde lieb…“ haben Generationen von Marienverehrern gebetet.
Das Kind, das im Vordergrund unseres Marienbildes – vor dreißig Jahren gemalt von dem Künstler Theo Schäfer aus Ostbevern – zu sehen ist, ist nicht der Säugling Jesus, der in den Armen der fürsorglichen Mutter liegt, sondern der jüdische Junge, der seine Füße wie zum Weggehen voreinander setzt. Zwar hält er sich noch mit der linken Hand an seiner Mutter fest, aber seine Bewegung geht von der Mutter weg; der Junge wird selbständig, er beginnt, auf eigenen Füßen zu stehen. Mit der rechten Hand zeigt er nach unten: Dort wird er bald seine Wege zu den Menschen gehen; sein Platz ist nicht mehr der Arm der Mutter, sondern die manchmal harte Erde, auf der die Menschen zuhause sind, seine Brüder und Schwestern, zu denen er vom Vater im Himmel gesandt ist; dort ist nun sein Platz.
Man mag an den zwölfjährigen Jesus im Tempel denken, der zu einem erwachsenen, voll gültigen Mitglied seiner Religion geworden ist und das Gespräch und die Auseinandersetzung mit den Autoritäten seiner jüdischen Herkunftsreligion sucht; nicht sein Elternhaus ist nun der Ort seines Auftrags, sondern der Tempel, in dem sein himmlischer Vater zuhause ist. Nicht mehr das Dörfchen Nazaret ist von nun an seine Heimat, sondern die ganze weite Welt, in der die Menschen leben. Maria und Josef hätten das Wort, das Jesus zu ihnen sprach, nicht verstanden, so wird im Lukasevangelium erzählt.
Die Evangelien berichten weiter von seltsamen Begegnungen Jesu mit seiner Mutter; so habe Jesus einmal alle, die das „Wort hören und es befolgen“, als Bruder, Schwester und Mutter bezeichnet; damit hat er wohl deutlich machen wollen, dass die geistliche Nähe höher steht als die leibliche Verwandtschaft; nicht die durch die Geburt entstandene Verwandtschaft, sondern die durch das Hören und Befolgen des Gotteswortes bewirkte Nähe prägt Jesu Verhältnis zu den Menschen, auch zu seiner leiblichen Mutter.
Marias trauriger Blick geht in die Ferne; sie scheint schon zu sehen, was anderen noch verborgen ist. Sieht sie seinen Konflikt mit den Autoritäten voraus? Sieht sie schon wie in einer Vision sein Leiden und Sterben? Blickt sie in eine ferne Zukunft, die nicht frei von Leid, Einsamkeit und Unverständnis ist?
Deshalb ist unser Gemälde auch ein Bild für alle diejenigen Mütter, deren Kinder sich auf den Weg der Selbständigkeit und Selbstbestimmung gemacht haben; ein Bild auch für alle Mütter, die das Erwachsen-Werden ihrer Kinder nur schwer verkraften können und mit ihrem inneren Auge schon eine Zukunft voraussehen, die nicht nur glücklich sein wird. Viele Mütter müssen auch das menschliche Scheitern ihrer Kinder miterleben, und sie haben es mit den Augen ihres Herzens schon lange gesehen: die dunkle Erfahrung mit den heranwachsenden und den erwachsenen Kindern.
Und schließlich steht die Mutter auf unserm Bild auch für die „Mutter Kirche“, wie wir sie manchmal nennen. Auch die Kirche kann ihre Kinder nicht in Unmündigkeit festhalten, so gern sie das vielleicht auch tun möchte. Auch die Söhne und Töchter dieser Mutter machen selbständige Schritte in die Zukunft hinein; viele möchten nicht entmündigt werden, sondern auch ihr Leben als Christinnen und Christen selbst gestalten. Sie möchten nicht nur nach Ordnungen und Normen leben und ihr Christenleben nicht von Geboten und Verboten bestimmen lassen, sondern nach der frohen Botschaft Jesu ihr Leben ausrichten und selbst bestimmen; Maßstab ist ihnen ihr eigenes Gewissen, das sich an der Frohbotschaft Jesu orientiert. Natürlich ist auch dieser Prozess der Mündigwerdung manchmal schmerzlich und vor Enttäuschungen nicht sicher. Auch das Leben eines erwachsenen, mündigen Christen ist anspruchsvoller und fordernder als das Leben von Menschen, die sich in Unmündigkeit und Fremdbestimmung behalten. Aber der erwachsene Jesus braucht eben auch erwachsene und mündige Menschen, die sich ihres Glaubens, zu dem sie sich bekennen, verantwortlich bewusst sind und die danach ihr Leben einrichten.
Der Blick der Mutter geht in eine ferne Zukunft; er strahlt nicht nur stille Trauer, sondern auch gläubigen Ernst aus: Jesus wird seinen Weg gehen, und dieser Weg ist letztlich der Weg zur Auferstehung und zum Leben in Fülle. Insofern ist das Bild ein Bild der Hoffnung, die stärker ist als alle Dunkelheiten des Lebens.
Ulrich Zurkuhlen (Mai 2004)