„Willkommen du, Morgenrot“.
Vor einigen Wochen war ich auf Kurzbesuch in Venedig; dort hat meine Schwester einige Fotos von dem herrlichen Licht über der Stadt gemacht. Da die Hauptsaison bereits vorbei war und die ganz großen Besucherströme nicht mehr da waren, konnte man sich relativ ungehindert in der Stadt aufhalten. In der Hauptsaison ist der Gang durch die kleinen Gassen eine Qual, nicht zuletzt, weil man dauern angerempelt wird und dabei seine Geldbörse sehr fest verschlossen halten muss; sonst ist sie weg, ohne dass man es merkt.
Venedig ist eine wunderbare Stadt, nicht nur wegen der vielen herrlichen Gebäude, sondern auch wegen des Spiels von Luft und Wasser. Deswegen ist es besonders schön, wenn im Abendrot und im Morgenrot der Himmel ein wunderbares Licht auf die Stadt wirft, etwa bei dem Bild der Kirche Sancta Maria delle Gracie.
Natürlich ist der Markus-Dom mit seinen riesigen Mosaik-Flächen eine Kostbarkeit, die jedem Vergleich stand hält; man brauchte eigentlich Stunden, um die Pracht auf sich wirken zu lassen. Auch hier in St. Marco ist der Touristenstrom nicht besonders angenehm, aber anders geht es wohl nicht; jedenfalls konnte man diesmal wenigstens in die Kathedrale hinein, was nicht immer der Fall ist.
Der gold-rote Himmel ist seit eh und je ein Symbol für die Gegenwart des Göttlichen gewesen. Die Engländer würden allerdings sagen, dass dies der „sky“ und nicht der „haeven“ ist. Da gehen wir Deutschen etwas schlampiger mit dem Wort „Himmel“ um, vieldeutig. Aber dass das gold-rote Leuchten auf den Betrachter eine eigenartige, mystische Dimension hat, ist unbestritten.
Mir fiel dieser Glanz wieder ein, als ich den Psalm 108 in der neuen Psalmenübersetzung des sprachmächtigen Niederländers Huub Oosterhuis las. Vor wenigen Wochen ist die deutsche Übersetzung seiner vom Hebräischen ins Niederländische übersetzten 150 Psalmen erschienen. Ich habe plötzlich einen neuen Zugang zu den Psalmen. Bisher fand ich sie manchmal fade und wenig aussagekräftig, nicht zuletzt, weil sie einer fremden Kultur entspringen. Ihre manchmal drastische Sprache muss ja sowieso erst verkraftet werden.
Wenn Sie für einen intelligenten und spirituell anspruchsvollen Menschen noch ein Weihnachtsgeschenk suchen, hier ist es: Huub Oosterhuis: Psalmen. Verlag Herder Freiburg 2014.
Der 108. Psalm steht auf S. 213:
Aufgestanden ist mein Herz,
Harfe und Flöte sind erwacht.
Wir spielen den Morgen wach:
Willkommen, heutiger Tag.
Wir werden was tun an der Welt,
frei atmen, singenderweise:
dass Feindschaft verstummt,
dass die Waffen schweigen.
Vom Nordpol bis hier
Und von hier bis zum Südpol
Komme eine neue Zeit,
kommen neue Geburten.
Aufgestanden ist meine Stimme,
Harfe und Flöte klingen zusammen,
Hunderttausende singen:
Willkommen du, Morgenrot.
Ein wunderbares, biblisches Morgengebet.