Hirten und Schafe.
In München, nicht weit vom Hauptbahnhof, fand ich diese hübschen Straßenschilder; meine Schwester hat sie gleich fotografiert. Es sind kleine Straßen, keine Hauptstraßen, keine Rennstrecken, sondern ziemlich unbedeutende Straßen; das passt dann irgendwie zu den Hirten und Lämmern, die ja auch gesellschaftliche Randfiguren sind.
Allerdings werden in einigen Wochen auf keiner Krippe Hirten und Lämmer fehlen; sie sind sozusagen Grundbestand einer jeden Weihnachts-Darstellung. Das ist nicht verwunderlich; denn das Evangelium nach Lukas berichtet diese Szene, wie Hirten von Engeln aufgefordert werden, nach Bethlehem zum Stall zu gehen und das Kind anzubeten. In der Krippenausstellung im Nationalmuseum in München sind besonders die neapolitanischen Krippen faszinierend und so wirklichkeitsnah. Auf einer riesigen Krippe mit Hunderten von Personen musste man das Kind suchen; die Hirten und Hirtinnen standen im Vordergrund. Das wäre nun ein interessanter Gedanke: Das Kind versteckt sich, und die, die das Kind anbeten, sind mit ihren Schafen die Hauptpersonen, die also, die den Sinn des Ganzen verstanden haben.
Man muss wohl dazu sagen, dass im Judentum, überhaupt in der Antike, die Hirten außerordentlich wichtige und geachtete Personen waren. Die Bibel erzählt, dass die „Mietlinge“, also die schlecht bezahlten Hilfsarbeiter, die Sprache der Lämmer nicht verstanden und deshalb ein gestörtes Verhältnis zu den Schafen hatten. Aber den Hirten ist dagegen keine Mühe zu groß, und sie nehmen selbst härteste Mühen auf sich, um jedes einzelne Schaf zu retten. Im Alten Testament waren die Hirten den Königen gleichgestellt, ja sogar Gott wird als „Hirt und König“ bezeichnet, und Bilder vom „guten Hirten“ sind uns ja sehr vertraut; meistens trägt Jesus, der gute Hirt, ein Schaf auf seinem Arm. Und Petrus bekommt den Auftrag, die Lämmer zu weiden, was natürlich ein Bild, ein Gleichnis ist.
In einer großen Tageszeitung fand ich vor einigen Monaten ein Bild, das entfernt mit dieser Geschichte zu tun hat. Da sieht man auf einer Karikatur einen Hirten, sogar einen „Oberhirten“, und es ist nicht zu übersehen, wer damit gemeint ist: kräftig in der Statur, mit den leuchtend roten „Rangabzeichen“ seines Amtes versehen. Wie gesagt: nicht nur Hirte, sondern Oberhirte. Auch er trägt auf dem Bild ein Lamm im Arm, und dieses Lamm trägt einen Maulkorb! Da hat der Zeichner ins Volle gegriffen.
Und wenn man bedenkt, wer in der heutigen Kirchensprache Hirt und wer Lamm ist, dann ist das Bild von herrlicher Ironie. Haben die Kirchenschafe nicht tatsächlich oft den Eindruck, dass ihnen ein Maulkorb vorgehängt wird, damit sie keinen Laut von sich geben?
Ich habe diese hübsche Karikatur ausgeschnitten und in meinem Arbeitszimmer aufgehängt. Damit ich nie in die Gefahr komme, den Kirchenlämmern einen Maukorb zu verpassen.
Ulrich Zurkuhlen