Der Weg des Wehrlosen.
Unter diesem Titel hat vor einigen Jahrzehnten die Schweizer Zeitschrift ferment einen beeindruckenden Kreuzweg vorgestellt, und ich habe die kleine Dorfkirche mehrmals privat besucht, einmal auch mit einem Bus mit achtzig Pilgern. Das Dorf heißt Orchamps-Vennes in der Nähe der Grenze von Südfrankreich zur Schweiz. Ich übertreibe nicht, wenn ich feststelle, dass dieser Kreuzweg für mich der eindrucksvollste ist, nicht zuletzt auch, weil er nicht die Spur von Kitsch zeigt und den Schrecken des Kreuzwegs Jesu sehr hart vermittelt. Der Kreuzweg wurde von dem kriegsversehrten, schwer kranken Künstler Gabriel Saury zwischen 1947 bis 1949 aus Ton mit dem Zusatz von Chamotte mit der Hand geformt.
Der Kreuzweg in der kleinen Dorfkirche fand begeisterten Zuspruch, wurde sehr beachtet und führte zur Bekehrung etlicher Beter. Aber – wie so oft: Der Klerus fand Anstoß daran, und so wurde das Zeigen des Kreuzwegs von „Rom“ verboten, da weiß man ja sowieso alles besser! Deswegen wurde der Kreuzweg 1955 im Pfarrhaus versteckt und erst 1970 wieder öffentlich gezeigt. Der Künstler starb 1978.
Ich habe das Bild der sechsten Station ausgewählt, wo gezeigt wird, wie Veronika Jesus ein Tuch gibt, damit er sich Blut, Schweiß und Tränen abwischen kann. Dieser Vorgang steht zwar nicht in der Bibel, aber ich finde, dass es eine besonders starke Aussage ist. Ein Wehrloser stürzt zu Boden. Und eine ebenso wehrlose Frau, die natürlich die Bestrafung durch die römischen Soldaten fürchten muss, geht nicht einfach auf Jesus zu, wie es sonst auf vielen Kreuzwegen zu sehen ist, sondern sie stürzt dorthin, wo Jesus stürzt; sie identifiziert sich mit dem Schwachen, Leidenden. Und sie umarmt ihn! Welch herrliches Zeichen in dieser dunkelsten Stunde. Zwei Wehrlose sind durch die Umarmung verbunden, ihre kaum zu sehenden Gesichter sind auch kaum wahrzunehmen, aber die enge Verbundenheit in der Umarmung strahlt Hoffnung und Liebe aus.
Eigentlich ist es eine kaum zu sehende, kleine Wohltat, aber der Lohn für Veronika ist groß: Das Gesicht Jesu prägt sich ihr tief ein, vielleicht in dem Tuch, bestimmt aber in ihrem Herzen. Manchmal sind kleine Zeichen der Verbundenheit und des Trostes großartige Wegstrecken auf dem Weg einer unzerstörbaren Hoffnung und einer kleinen, aber sehr tiefen Anteilnahme.
Ulrich Zurkuhlen