So war es!
Das war das erste Mal in meinem 54 Jahre langen Priesterleben, dass ich bei der Predigt von einer Gruppe Protestler/innen niedergeschrien wurde. Mein Predigtthema war „Vergebung“; den Anlass meiner Predigt habe ich genannt: Zwei Frauen hatten deutlich hörbar sich über ihre ehemaligen Partner unterhalten und dabei kein heiles Haar an ihnen gelassen: Waren sie nur böse gewesen, keine Spur von Freundlichkeit und Menschlichkeit… Ich habe in der Predigt die rhetorische Frage gestellt, ob die ehemaligen Partner überhaupt keine guten Seiten hatten.
Dann habe ich gesagt, dass ich es auch an der Zeit fände, dass unsere kirchlichen Hierarchen doch auch den Missbrauchs-Tätern irgendwann vergeben würden. Ich hätte gern begründet, warum ich meine, dass Vergebung zu den Grundaufgaben von Christen gehört und dass auch keinen anderen Weg zum Frieden gibt: ich hätte gern die Geschichte zitiert, in der Jesus der Ehebrecherin vergibt, oder die Geschichte vom barmherzigen Vater, der seinem Sohn, der sehr Böses getan hat, vergibt, während der „brave“ Sohn diese liebevolle Zuwendung des Vaters in diesem Augenblick nicht erfährt. Oder ich hätte gern auf die Geschichte des Brudermörders Kain erzählt, wo Gott den Verbrecher begnadigt und ihm sogar Lebensschutz verspricht. Aber das alles war nicht möglich, weil die Leute so herum schrieen, dass ich mich nicht mal durch das Mikrofon verständlich machen konnte.
Ich hätte auch gern die Novelle „Das Netz“ von Werner Bergengruen erzählt, die ich früher oft im Religionsunterricht erzählt habe. Da wird von einem Dorf in der Bretagne berichtet, in der es ein altes Gesetz war, dass nämlich eine Ehebrecherin von den Klippen ins Meer gestürzt wird. – Und so kam es, dass eine Frau, deren Mann als Fischer auf See war, beim Ehebruch ertappt wurde. Und so wurde auch sie zum Tode verurteilt. Wie erstaunt waren alle Leute, als die Frau, höchsten mit ein paar Schrammen im Gesicht, am nächsten Tag mit ihrem Mann durchs Dorf ging. Was war geschehen? Der Mann hatte von der dramatischen Geschichte erfahren und seine Fischernetze über den scharfen Felsen im Meer gespannt, sodass seine Frau von den Netzen aufgefangen wurde. – Wenn ich diese Geschichte erzählte, fragte immer (immer!) einer der Schüler: Ist die Geschichte wahr? Meine Gegenfrage: Meint du, ob sie wahr ist oder ob sie so passiert ist? Ob sie so passiert ist, weiß ich nicht, da musst du den Verfasser fragen. Aber dass Vergebung größer ist als Schuld, das ist wahr.
Schade! Das alles war nicht möglich zu erklären, weil ich, wie gesagt, nieder geschrieen wurde.
Ein junger Jurist sagte mir übrigens nach der Messe, Vergebung sei erst möglich, wenn die Strafe abgesessen sei. Dieser Meinung bin ich nicht.
Nachtrag: Das Predigtthema war „Vergebung“. Es sollte keinesfalls etwas verharmlost, relativiert oder gerechtfertigt werden.