Das Gewissen

Ja, das ist jetzt tatsächlich schon ein halbes Jahrhundert her, als meine Kollegen und ich jeden Tag darauf brannten zu erfahren, was es in Rom wieder sensationelles in Glaube und Kirche gegeben hatte. Oft holte einer von uns schon vor dem Frühstück im Collegium Borromaeum eine Tageszeitung vom Kiosk, um alles neue Wichtige vom Konzil zu erfahren.

Einiges ist ja inzwischen selbstverständlich, z.B. die neue Liturgie oder die Religionsfreiheit oder der Pilgercharakter der Kirche.

Mir ist etwas Anderes besonders wichtig, was allerdings in der kirchlichen Verkündigung gern unterschlagen wird: das Gewissen. In dem Konzilsdokument „Die Kirchen der Welt von heute“ steht im 16. Kapitel ein Abschnitt, den ich Ihnen ungekürzt anbieten möchte: „Im Innern seines Gewissens entdeckt der Mensch ein Gesetz, das er sich nicht selber gibt, sondern dem er gehorchen muss und dessen Stimme ihn immer zur Liebe und zum Tun des Guten und zur Unterlassung des Bösen aufruft und, wo nötig, in den Ohren des Herzens tönt: Zu dies, meide jenes. Denn der Mensch hat ein Gesetz, das von Gott seinem Herzen eingeschrieben ist, dem zu gehorchen eben seine Würde ist und demgemäß er gerichtet werden wird. Das Gewissen ist die verborgenste Mitte und das Heiligtum im Menschen, wo er allein ist mit Gott, dessen Stimme in diesem seinen Innersten zu hören ist. Im Gewissen erkennt man in wunderbarer Weise jenes Gesetz, das in der Liebe zu Gott und dem Nächsten seine Erfüllung hat. Durch die Treue zum Gewissen sind die Christen mit den übrigen Menschen verbunden im Suchen nach der Wahrheit und zu wahrheitsgemäßen Lösung all der vielen moralischen Probleme, die im Leben der einzelnen wie im gesellschaftlichen Zusammenleben entstehen… „ Das ist Kern der Konzilsbotschaft.

Mein Vorschlag: Lesen Sie den Text jetzt noch einmal langsam durch. Unterbrechen Sie, wenn Sie ein Wort, einen Satz näher bedenken möchten.

Wenn das Gewissen die entscheidende Handlungsanweisung ist, kann man das Gewissen nicht hoch genug bewerten. Natürlich gibt es sehr unterschiedlich Deutungen dieses nicht ganz einfachen Gedankenganges, und manchmal wird man fragen, zu welchen Konflikten es kommen kann.

Genau das dann wohl der Grund, weshalb man diesen Konzilstext gern übersieht oder ihn bewusst missdeutet; denn da steckt Sprengstoff drin.

Nehmen wir mal folgendes, natürlich ganz abstraktes Beispiel: Der Bischof als Vorgesetzter verbietet einem Priester, sein Amt auszuüben, besonders nicht zu predigen oder Gottesdienst zu feiern; der Bischof wird seine Gründe haben. Und der Priester? Nehmen wir an, dass er von seiner Berufung und dem von der Kirche durch Weihe beauftragten Dienst überzeugt ist und sein Gewissen ihm das bestätigt? Was dann? Wie gesagt: Reine Theorie!

Und da kommt mir plötzlich John Henry Newman in den Sinn, der große englische Theologe und Kardinal, der vor wenigen Wochen heilig gesprochen wurde.  Er trat 1845 von der anglikanischen zur katholischen Kirche über und war nicht mit allem einverstanden, was das Erste Vatikanische Konzil beschlossen hatte, etwa das Dogma von der Unfehlbarkeit des Papstes. Über das Zweite Vatikanische Konzil hätte er sich sicher gefreut. Denn er schrieb an einen Freund: „Wenn ich genötigt wäre, bei den Trinksprüchen ein Hoch auf die Religion auszubringen – was wohl nicht ganz das Richtige zu sein scheint -, dann würde ich gewiss auf den Papst trinken, zuerst jedoch auf das Gewissen und erst danach auf den Papst.

Ich glaube, dass diese Reihenfolge nicht nur bei Trinksprüchen gilt, sondern – siehe Vatikanum II. –  auch bei anderen Gelegenheiten, bei denen man sich entscheiden muss. Das hat schließlich ein aktueller Heiliger gesagt.

 

Einverstanden?