Väter – Erzieher
Kürzlich stieß ich in meiner umfangreichen Themen-Sammlung auf eine Mappe mit dem Thema „Männer / Väter“; sie war weitgehend zu einem Männer-Wochenende unserer Pfarrgemeinde vor 30 Jahren entwickelt. Ich habe mit großem Interesse darin geblättert. Das Thema einer mir bis dahin unbekannten Zeitschrift „Männer – weder Paschas noch Nestflüchter“ will ich für diesen heutigen Homepage-Artikel nicht verwenden. Da fand ich die Überschrift aus einer mir ebenfalls bis dahin unbekannten Zeitschrift „Meine Familie“ geeigneter: „Die Erziehung des Vaters komplettiert das Kind“. Genau das ist es wohl. Überspitzt formuliert: Kinder, die nur von einem einzigen Elternteil erzogen werden, werden defizitär erzogen, und das ist besonders dramatisch, als Anfang der fünfziger Jahre Alexander Mitscherlich von der „Vaterlosen Gesellschaft“ sprach; darüber gleich noch ein bisschen mehr!
„Während die Mutter für Ruhe, Emotionalität und alle sozialen Themen zuständig ist, deckt der Vater in der Regel den Bereich der risikobereiten und körperorientierten Aktivitäten ab,“ heißt es in „Meine Familie“. Und: „Mütter und Väter sind aus diesem Grund gleichermaßen wichtig für die ganzheitliche Entwicklung des Kindes.“
Der Junge lernt beim Vater ein eigenes Rollenverständnis. Besonders in der Pubertät hilft der Vater, das eigene, männliche Ich zu finden und zu entdecken. Dann werden die erlernten Verhaltensmuster und Ideale infrage gestellt und durch eigene Erfahrungen und selbst entwickelte Wertvorstellungen ersetzt. Etwas anders ist es beim Vater-Tochter-Verhältnis: Da macht das Mädchen erste Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht. Und wenn das Kind, egal ob Sohn oder Tochter, merkt, dass Vater und Mutter nicht völlig gleiche Erziehungsinhalte vermitteln, lernt das Kind, dass es bei allen wichtigen Entscheidungen des Lebens nicht nur Schwarz oder Weiß gibt, sondern viele weitere Schattierungen dazwischen.
Zurück zu Mitscherlich! Meine Generation ist tatsächlich eine im Wesentlichen vaterlose. Unter meinen Freunden und Schulkameraden damals war etwa zwei Drittel kriegsbedingt ohne Vater, auch ich selbst.
Und dann machten wir uns auf die Suche nach einem Ersatzvater: manchmal Großvater oder Onkel; manchmal der ältere Bruder; öfter der Gruppenleiter und der Pfadfinder-Leiter, vor allem aber auch der Lehrer, der Kaplan oder auch der Nachbar, zu dem das Kind Vertrauen hatte. Das waren damals recht normale Zustände; aber natürlich waren auch die Mütter ungemein wichtig, aber anders. Und heute? Ich habe mir ein paar Mal die Augen gerieben, als ich vor ein paar Monaten in der Süddeutschen Zeitung las, dass heute etwa 51 {0f38065183cb40ac31b18e7eb06d8f44721306cfb9fa896965a116e3f20acc1c} aller heranwachsenden Jungen ohne feste Vaterbindung sind. Das würde bedeuten, dass Mitscherlichs „vaterlose Gesellschaft“ keineswegs nur Nachkriegs-Vergangenheit, sondern auch gesellschaftliche Zukunft ist.
Ulrich Zurkuhlen